Im hohen Mittelalter gingen Leute aus dem Kirchspiel Brunsbüttel zum Leidwesen der Kaufleute gerne einer Tätigkeit nach, die wir heute als Seeräuberei bezeichnen. Bei der moralischen Bewertung der Beraubung von Schiffen durch die damaligen Küstenbewohner sollte man aber berücksichtigen, dass es seinerzeit noch keinen Länderfinanzausgleich und keine Förderprogramme für ländliche Räume gab … also nahm man die Sozialtransfers in die eigene Hand.
Am 30. März des Jahres 1316 wurde zwischen der Stadt Hamburg und einigen Dithmarscher Geschlechtern ein Vertrag über die Sicherheit der Kaufleute auf der Elbe geschlossen.
Dieser Vertrag beginnt mit einer Aufzählung der anwesenden Geschlechter aus dem Kirchspiel Brunsbüttel:
„In nomine Domini Amen. Vniuersis in perpetuum presentia visuris seu audituris Nos Amitzemanni, Vokemanni, Etzinghemanni et Zertzingmanni de parrochia Brunesbutle cupimus esse notum et …“
(nach Michelsen, 1834).
Im weiteren Verlauf des Vertrags werden anwesende und wahrscheinlich gewaltsam verstorbene Mitglieder der obigen Geschlechter namentlich aufgeführt. Diese Sektion beginnt mit
„De nobis Ezinghemannis Vos filius scarlakenis et Hammo Steueghehillensone, pro petro nacken apud cogghonem occiso“,
also „Von unseren Ezinghemannen Vos, Sohn des Scarlaken, und Hammo Steueghehillensone, für Peter Nacken, gefallen bei der Kogge.“
Die Anmerkung „gefallen bei der Kogge“ findet sich nur im Zusammenhang mit Peter Nacken, während nichts Konkretes über das Schicksal der anderen Männer, welche die Anwesenden vertreten, gesagt wird. Was mag mit ihnen passiert sein? Wahrscheinlich wurden sie von den Hamburgern hingerichtet. Der Überlieferung nach soll es vorgekommen sein, dass Bürger aus dem Land Hadeln „Seeräuber“ aus dem Kirchspiel Brunsbüttel gefangen nahmen und an die Hamburger auslieferten, wohl um sich selbst gegenüber den Hamburgern in ein günstiges Licht zu setzen. Die Hamburger ließen die Dithmarscher köpfen, was die Beziehungen zwischen Brunsbüttelern und Hamburgern nachhaltig beeinträchtigte.
Es ist also möglich, dass einige oder alle der unten von mir als „vermutlich tot“ deklarierten Clan-Mitglieder nicht „bei der Kogge gefallen“ waren, wie der Vertrag unterschwellig suggeriert, sondern von den Hamburgern exekutiert wurden und diese peinliche Tatsache durch ausgefeilte Formulierungen und geschicktes Arrangement des Textes ein wenig unter den diplomatischen Teppich gekehrt werden sollte.
(Das sind Vermutungen – ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Die Lektüre des Kommentars von Ulrich Hübbe (1827) hat mich allerdings in meiner Meinung bestärkt).
Hier also die Geschlechter und ihre Mitglieder mit einigen Anmerkungen (ich folge hier dem von Hasse, 1896, präsentierten Urkundentext):
Ezinghemanni (Ezinghemannen)
• Vos filius Scarlaken (Vos, Sohn des Scarlaken)
• Hammo Steueghehillensone (heißt wohl „Steneghehillen“)
• Petrus Nacken (tot, „bei der Kogge gefallen“)Zertzinghemanni (Zertzingmannen)
• Johannes filius Ywani Hibbensone (Johannes, der Sohn des Ywan Hibbensone)
• Ywan (Hibbensone) (vermutlich tot)Vokenmanni (Vokemannen)
• Henricus Vokensone
• Herderus (Herder, Sohn des Henricus Vokensone)
• Bojo filius frederici (Bojo, Sohn des Friedrich)
• Hannebole et frater ejus Johannes (Hannebole und desses Bruder)
• Johannes Lalle et frater ejus (Johannes Lalle und dessen Bruder)
• Ecghehardo Vokensone (vermutlich tot)
• Manekino (vermutlich tot)Amitzemanni (Amitzemannen)
• Iohannes Pram
• Volo Fresensone (wird wohl Voko Fresensone heißen)
• Reymarus Tule
• Otto Boyensone
• Thedo filius Nycolai Ameken (Thedo, Sohn des Nycolaus Ameken)
• Mane Stukensone
• Ameke Mule
• Spituul Knechteke (wahrscheinlich „Spitmul“)
• Bruninghus filius Johannis Emmensone (Bruningh, Sohn des Johannes Emmensone)
• Stelling frater Jungheren (Stelling, Bruder des Jungheren, siehe Edo Juncheren)
• Nycolaus Amekini (vermutlich tot)
• Nycolaus Emmensone (vermutlich tot)
• Edo Juncheren (vermutlich tot)
• Nanno Wedelen (vermutlich tot)
Der Vertrag wurde in einem heute verschollenen Ort namens Marsgroue (Marsgrove) geschlossen.
Neben diesem Vertrag aus dem Jahre 1316 liegen zwei Urkunden aus dem Jahre 1308 vor, in denen es ebenfalls um einen Friedensschluss zwischen Seeräubern aus dem Kirchspiel Brunsbüttel und der Stadt Hamburg geht. In einer dieser Urkunden (Version A) werden die Namen von Mitgliedern von zwei Seeräuber-Geschlechtern, den Ameringemannen und Edigmannen (in der Version B heißen diese Amitzemannen und Stukenedenmannen), und deren Mitgliedern aufgeführt:
Ameringemannen und Edigmannen
• Claus Amickensone (= Nycolaus Ameken, der Vater von Thedo)
• Henneke Fresensone
• Nicolaus Ommensone (= Nycolaus Emmenson)
• Herdig Grote Mertin Sone
• sein Bruder Siric
• Mane Stuken Sone
• sein Bruder Williken
• Ede Iungher (= Edo Juncheren)
• sein Bruder Williken
• Boleke Hoyke
• sein Bruder Ote (= ev. Otto Boyensone)
• Iohannes Pram
• Ameke Mul (= Ameke Mule)
• Rode Ameke
• Nanne Wedele (= Nanno Wedelen)
• Henneke Boke
• Henneke Titenannensone
• Herder Knechteken
Die auch im Vertrag von 1316 erwähnten Männer sind farblich hevorgehoben. Dort findet man unter den Amitzemannen auch noch einen weiteren Fresensone (Voke) und einen Knechteke (Spituul). Es besteht also kein Zweifel, dass Ameringemannen und Amitzemannen identisch sind.
Neben den Amitzemannen und Stukenedenmannen werden in der Urkunde von 1308 (Version B) noch die Geschlechter der Wanekemannen und Todenmannen genannt.
In einer Urkunde von 1286 erklärt das Kirchspiel Brunsbüttel dem Erzbischof Giselbert von Bremen, dem Rat zu Hamburg und anderen, dass die Geschlechter des Kirchspiels zukünftig keine Kaufleute mehr berauben werden. Namentlich genannt werden dort die Vokenmannen, Syrsingemannen, Oedesmannen und Bolinghemannen (Michelsen, 1834).
Wo genau mögen die im Vertrag von 1316 erwähnten Herren gelebt haben?
Das waren wohl ausschließlich oder zumindest überwiegend Ostermoorer! Wir haben eine Auflistung von Ostermoorer Bürgern aus dem Jahre 1316 vor uns.
Unten gezeigt wird die Bauerschaft Ostermoor um 1600, wie sie sich Lippert (1962) vorstellte. Die alten Flurnamen stammen aus dem Jahre 1728.
Die Vokemannen dürften laut Lippert östlich der Ostertweute im Bereich des späteren Lütt Dörp („Vackmen-Feldmark“) gesiedelt haben, etwas westlich davon vielleicht die Zertzingmannen („Sarsene-Feldmark“), noch weiter westlich die Amitzemannen („Ickeme-Feldmark“) und im Bereich der Wurtleutetweute schließlich die Ezinghemannen („Itzene-Feldmark“). Unweit der Vackmen-Feldmark befand sich einst der Ort Quedtslyppe (eine Slippe ist ein Übergang über den Deich). Nach der Chronik der Brunsbütteler Boien siedelte sich der Ahnherr des Geschlechts der Vakemannen namens Harr Vage um 1208 im Queet an – es passt also alles bestens zusammen.
Unter den oben aufgeführten Ezinghemannen befand sich ein gewisser „Vos, Sohn des Scarlaken“. Der Scarlak wurde sicher wegen seiner scharlachroten Haare so genannt – oder er entstammte einem Geschlecht, dessen Begründer durch ebensolche Haare auffiel. Zu dieser Deutung passt der Name seines Sohnes, nämlich Vos, das niederdeutsche Wort für Fuchs, jedenfalls hervorragend. Der einstige Wohnort der „Scharlaken“ findet sich interessanterweise ebenfalls auf der Karte – es handelt sich um die Scharlaken-Feldmark zwischen dem Mohlendamm und der Westertweute!
Die westlich von der Ostertweute lokalisierten „Sarsen“ gehen vielleicht auf einen „Sahr“ (Szar, Szager, Sager) zurück. Übrigens trat im Vertrag von 1316 ein „Sagerbuteke“ als Zeuge auf. Im Ostermoor des 16. und 17. Jahrhunderts kam dieser Namen oft vor, auch eine angeheiratate Urur…großtante von mir hatte einen Sager/Sahr unter ihren Vorfahren, der wohl um 1510 geboren wurde (es handelt sich um Saers Claus Peters Ancke, die Ehefrau des Ties Johans Claus Henning). Ein „Vagen Sahr“, er lebte um 1575, führte sogar zusätzlich noch den typischen Seeräuber-Namen Vage. Oder erhielten die Sarsen ihren Namen (= Sarazenen?) wegen ihrer dunklen Haut? Lippert setzte die Sarsen mit dem in der Urkunde von 1286 erwähnten Geschlecht der „Syrsinghe“ (= Syrer?; Sahrslinge?) gleich.
Wie Lippert (1962) vermute ich, dass die Bolinghemannen aus dem Dokument von 1286 im heutigen Belmhusen ansässig waren. Die Oedesmannen gaben möglicherweise Oldeburwörden, auf der Karte Olbarwurden genannt, ihren Namen.
Es ist also so gut wie sicher, dass zumindest einige der in den Urkunden von 1286, 1308 und 1316 erwähnten Geschlechter zwischen dem (möglicherweise erst später errichteten) Ostermoorer Schenkeldeich und dem Eddelaker Fleet lebten.
Die Namen der Seeräuber lassen möglicherweise einige interessante Rückschlüsse auf die Welt der Alt-Ostermoorer zu.
So könnte es bereits um 1316 in Ostermoor eine Windmühle gegeben haben, wie der Name Ameke Mule vermuten lässt. Es dürfte sich um eine Bockwindmühle gehandelt haben. Demnach wurde in Ostermoor das Getreide zentral vermahlen. Oder wurde Ameke – wie es damals durchaus üblich war – nach seinem auffällig großen Mund benannt?
Nach der Familienüberlieferung der Brunsbütteler Boien, den Nachfahren der Vokemannen, existierte im Mittelalter zwischen dem „Queet“ und dem südlichen Elbufer eine Fährverbindung. Der Seeräuber Johannes Pram könnte einer der Fährleute gewesen sein – ein Pram ist eine flache Fähre, welche das Befahren der Priele ermöglichte.
Peter Nacken schließlich besaß möglicherweise einen Nachen, also ein Boot, das er vielleicht zum Fischen benutzte – oder zeichnete er sich durch eine kräftige Nackenmuskulatur aus?.
Einer der im Vertrag aufgelisteten Amitzemannen hieß Spituul Knechteke. Hier liegt wohl ein Lese- oder Kopierfehler vor – der Mann hieß wahrscheinlich Spitmul, also Spitzmaul … er war vielleicht scharfzüngig und der Harald Schmidt der Truppe.
Literatur
- Bolten, J.A. (1782): Ditmarsische Geschichte. Zweiter Theil. Flensburg und Leipzig, Kortens Buchhandlung. Unveränderter Nachdruck 1969, Verlag Schuster, Leer.
- Hübbe, U. (1828): Verhältnisse der Dithmarschen mit den Hamburgern, vom Jahre Christi 1265 bis 1316. Aus Urkunden. In: Neocorus (1598): Dithmersche historische Geschichte. Hrsg. von F. C. Dahlmann im Jahre 1828, Ausgabe von 1904, Heider Anzeiger, Heide, Seite 555 – 579.
- Lippert, W.H. (1962): Anhang zum Artikel „Brunsbüttelkoog“ von John Jacobsen. In: Dithmarschen, Heft 2, 42 – 44.
- Michelsen, A.L.J. (1834): Urkundenbuch zur Geschichte des Landes Dithmarschen. Neudruck 1969, Scientia Verlag, Aalen.