Also lautet ein Beschluß:
Dass der Mensch was lernen muß.
Nicht allein das Abc
Bringt den Menschen in die Höh,
Nicht allein im Schreiben, Lesen
Übt sich ein vernünftig Wesen;
Nicht allein in Rechnungssachen
Soll der Mensch sich Mühe machen;
Sondern auch der Weisheit Lehren
Muß man mit Vergnügen hören.
Leider liefern uns die wenigen noch vorhandenen Unterlagen nur wenige Hinweise auf den Schulalltag und die Qualität der Schulbildung im alten Ostermoor. Das wenige, das ich fand, mag aber überraschen …
Verhalten in der Schule
Heutzutage werden schlechte Schulleistungen gerne damit erklärt, dass die Lehrer es ja weit schwerer hätten als ihre Vorgänger – den Schülern fehle es an Disziplin und Konzentration, so wird argumentiert. Beklagt wird auch die Gewalt an Schulen. Aber war es früher wirklich so viel anders?
Nicht ohne Hintergedanken habe ich oben Wilhelm Busch zitiert. Beim Vierten Streich geht es nämlich so weiter:
Dass dies mit Verstand geschah
War Herr Lehrer Lämpel da.
Max und Moritz, diese beiden,
Mochten ihn darum nicht leiden.
Denn wer böse Streiche macht,
Gibt nicht auf den Lehrer acht.
…
Schon zu Zeiten Wilhelm Buschs (* 1832; † 1908) mangelte es einigen Schülern offenbar an Lerneifer, auch ließ das soziale Verhalten – hier der Umgang mit dem Lehrkörper – zu wünschen übrig. Als Ursache für fehlende Konzentration wird heute gerne die Reizüberflutung durch die Medien angegeben. Als Heinrich Hoffmann (* 1809; † 1894) die Figur des Zappelphilipps schuf, gab es aber weder Fernsehen noch Computerspiele …
„Ob der P h i l i p p heute still
Wohl bei Tische sitzen will?“
Also sprach in ernstem Ton
Der Papa zu seinem Sohn,
Und die Mutter blickte stumm
Auf dem ganzen Tisch herum.
Doch der Philipp hörte nicht,
Was zu ihm der Vater spricht.
Er gaukelt
Und schaukelt,
Er trappelt
Und zappelt
Auf dem Stuhle hin und her.
„Philipp, das mißfällt mir sehr!“
…
Diese wohlbekannten Beispiele aus der Literatur lassen vermuten, dass auch in der alten Zeit der Schulalltag für die Lehrer doch nicht ganz so stressfrei war, wie es heute in Verkennung der Fakten gerne kolportiert wird. Aber wenigstens brachten die Schüler früher keine Waffen mit zur Schule, so wie es heute gelegentlich geschieht, könnte man vielleicht denken …
Man ahnt es schon: Auch das ist ein Irrtum. In einem Protokoll aus dem Jahre 1594, das anlässlich einer routinemäßigen Visitation des Kirchspiels Brunsbüttel durch den Probst und den Landvogt verfasst wurde, geht es unter anderem um den Kinderkaland, ein Schulfest, das um die Fastnachtszeit abgehalten wurde. Durch Singumzüge beschafften sich die Schüler die für das Fest erforderlichen Viktualien. Offenbar gab es aus der Bevölkerung Klagen über das aggressive Verhalten der Schüler während des Umsingens. Die Visitatoren reagierten darauf, indem sie das Tragen von Waffen und Gewaltanwendung allgemein verboten:
„ock schollen de Scholer in eren vorloueden Umsingende gantz nene Were [ganz ohne Waffen], ydt si Poke [es seien Messer], Dolcke [Dolche], Swerde [Schwerter], Spete [Spieße], Speißen [?], Gleuinge [Lanzen] edder anders [oder andere] mith sick dragen, ock unter sick suluest edder jegen andere sich nicht slagen vnd vyentlich beschedigen [feindlich beschädigen].“
Offenbar verliehen die Schüler ihren Forderungen nach Geld und Eßbarem Nachdruck, indem sie spendenunwillige Bürger mit Messern, Dolchen, Schwertern, Spießen und Lanzen und anderen Waffen bedrohten.
Ein im Amtsregister von 1707 aufgeführter Vorfall (LAS 102 AR 1707)² wirft Licht auf das Verhalten von Schülern im frühen 18. Jahrhundert:
„Claus Jürgens aufn Östermohr hat geklaget daß Henricus Erdman Cantor in Brunsbüttel am 24. Jan. a.c. [anni currentis, lateinisch für „laufenden Jahres“] als er mit seinen Schülern aufm Östermohr gesungen, zugegeben, daß selbe die Fenstern in seinem Haus eingeschlagen und seine Frau ins Haus verfolget.“
Wir müssen wohl von der Vorstellung Abstand nehmen, dass in alten Zeiten disziplinierte, wissbegierige und authoritätsgläubige Schüler ihre Augen auf die Lippen des Lehrkörpers hefteten. Vielmehr befürchte ich, dass die damaligen Probleme sich nicht grundlegend von den heutigen unterschieden.
Qualität der Schulbildung
An den Schulen wurden die Kinder im Lesen, Schreiben und Rechnen sowie in den Grundlagen des christlichen Glaubens unterwiesen. Aber legten die Einwohner von Ostermoor wirklich wert auf Schulbildung? Und war diese abhängig von sozialen Stand und Geschlecht eines Kindes?
Mir liegt ein Vertrag vom 30.5.1699 vor (LAS Abt. 102.1 Nr. 657)². Einer der beiden Vertragspartner war die kleine Antje, die vielleicht zwei Jahre alte Tochter des kurz zuvor verstorbenen Ostermoorers Peter Martens. Sie wurde von ihren Vormündern Hans und Johann Reimers vertreten. Der andere Kontrahent war der Verlobte der Mutter Telsche, er hieß Peter Tiedemann. Laut Umschreibungsregister von 1699 besaß Peter Martens 2 Morgen und 13 Scheffel Land. Das waren nach heutigen Maßen zirka 4 ha. Die Martens waren somit Kleinbauern. Im Vertrag musste der zukünftige Stiefvater zusichern, die Tochter seiner Frau
„christlich und wohl zu erziehen, zur Schulen und Gottesfurcht zu halten und biß die … [unleserlich] daß 18te Jahr völlig erreicht, an Kost und Kleidungen nach Gebühr und Billigkeit ihres Standes zu versehen“.
Wir können also vorsichtig schlussfolgern: Schon vor 1700 legte man im Ostermoorer Kleinbauernmillieu zumindest formal Wert darauf, dass die Kinder, auch die Mädchen, die Schule besuchten. In der Praxis aber mögen viele Kinder selten in der Schule erschienen sein, insbesondere in der warmen Jahreszeit, wenn viel zu tun war.
Im Nachhinein ist es schwierig, die Bildungsgrad der einfachen Landbevölkerung zu ermitteln. Ein geeigneter Indikator für die Dauer und Intensität des Schulbesuchs ist die persönliche Unterschrift. Leider sind nur wenige Unterschriften von Einwohnern der Bauerschaft Ostermoor aus der Zeit vor 1700 überliefert. Dagegen findet man zahlreiche Dokumente mit Originalunterschriften aus dem mittleren und späten 18. Jahrhundert. Da Frauen selten über Land und sonstige Vermögen verfügten, sind ihre Unterschriften relativ selten.
Abbildung 1 zeigt einige Unterschriften unter einem Kreditvertrag von 1669. Der Kreditnehmer war Harders Peter, meine Urur…cousins Henninges Peter und Henninges Ties, Söhne von den Ostermoorern Ties Johans Claus Henning und Sars Claus Peters Ancke, fungierten als Bürgen. Alle drei waren kleinere Bauern, wie ihre bescheiden angesetzte Spende für die neue Kirche im Jahre 1677 erkennen lässt. Ihre flüssigen Unterschriften deuten auf einen regen Schulbesuch hin. Die genauen Lebensdaten der Akteure sind mir leider nicht bekannt, aber sie dürften inmitten des 30-jährigen Krieges zur Schule gegangen sein, was ihren Schreibkünsten offenbar aber keinen Abbruch tat.
Das am 4. Oktober 1691 verfertigte Dokument (Abbildung 2) wurde von mehreren Ostermoorern unterzeichnet, nämlich Hinrichs Johan, Johan Boye (?) und Peters Dres. Bei diesem Johann Boye (der andere ist der Kirchspielschreiber) könnte es sich um meinen Vorfahren Johann Boye den Älteren (* zirka 1630; † 1697/98) handeln (Johnsen meinte allerdings, es sei die Unterschrift von Johann Boye Mahnken Sohn, Kirchenbaumeister und Landesgevollmächtigter aus dem Geschlecht der Brunsbüttel Boien, siehe BHS 132). Peters Dres war der Schwiegervater seines Sohnes Johann, und Hinrichs Johan der Ehemann seiner Tochter Telsche. Sie waren Bauern auf für Ostermoorer Verhältnisse großen Höfen. Auch sie haben die Schule besucht, wie uns ihre flüssigen Unterschriften verraten.
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Abbildung 3 zeigt mehrere Unterschriften auf dem Testament der Anna Meinert aus dem Jahre 1728. Anna („Antje“) Meinert (* 1704; † 1775) war eine geborene Redegelt, die Ehefrau des Peter Meinert, Arriens Sohn (* 1698; † 1762) und meine Vorfahrin. Ihr Vater Hinrich Redegelt war ein Kleinbauer, dessen Grundbesitz im Umschreibungsregister von 1699 mit 3 Morgen und 7 Scheffel, also zirka 5 ha, angegeben wird. Anna Meinerts Unterschrift ist vollständig und einigermaßen flüssig. Dagegen konnten Claus Reimers und Johann Tiesen nur mit etwas zittrig ausgeführten Initialen (CR bzw. IT) signieren. Mein Urur…großonkel Claus Reimers (* zirka 1698/99; † 1771) war 1728 ein kleiner, später ein mittlerer Bauer, laut BHS (S. 236) versteuerte er 1727 bescheidene 4 Morgen Land, 1764 dann beachtliche 16 Morgen. Dass er in Ostermoor geboren und beschult wurde, ist anzunehmen, denn im Ackerschatzregister von 1686 (LAS Abt. 102 Nr. 373)² wird sein mutmaßlicher Vater Claus Reimers mit einem 13 Scheffel (zirka 1 ha) großen Kleinstbesitz geführt. Jürgen Ackermann († 14.5.1738), der Vormund der Antje Meinert und Ehemann meiner Urur…cousine Telsche Boye, unterschrieb im Gegensatz zu den genannten männlichen Ostermoorern sehr flüssig, was auf einen regen Schulbesuch schließen lässt.
Das Testament in Abbildung 4 wurde unter anderem von Tewes Tewes und Lencke Tewes unterzeichnet. Lencke Tewes, eine geborene Pein, stammte aus Diekhusen bei Marne; am 30. April 1702 wurde sie an Tewes Tewes, Johans Sohn, aus Ostermoor verheiratet. Dieser heiratete am 22. Oktober 1713 Triencke Breuer, ebenfalls aus Diekhusen. Lencke Tewes starb also unmittelbar nach Abfassung des Testaments im November 1712. Sie dürfte um 1690 in die Schule gegangen sein und konnte wie ihr Mann schreiben: Ihrer Unterschrift fügte sie ein wenig krakelig „mein Hand und erbetene Petschafft“ hinzu. Sie hatte das Siegel also nur geborgt, wie auch Claus Bunge, mein angeheirateter Urur…großonkel, der wie die meisten Unterzeichner aus Ostermoor mit „erbetener Hand“ unterschrieb, also selbst wenig oder nicht schreiben konnte. Claus Bunge stammte aus kleinen Verhältnissen, wie die bescheidene Spende seines mutmaßlichen Vaters Claus für die neue Kirche im Jahre 1677 bezeugt.
Aber noch bis in das 19. Jahrhundert hinein unterzeichneten einige Einwohner Verträge mit einem Kreuz. Auch meine Vorfahrin Telsche Boie (* 1752; † 1824), geborene Hinrichs, setzte bei einer Hofüberlassung im Jahre 1815 ein Kreuz unter den Vertrag zwischen dem Hofverkäufer Wilcken Boie III und ihrem gemeinsamen Sohn Johann (Abbildung 5). Der Notar ließ wie in solchen Fällen üblich eine Lücke zwischen dem Vor- und Nachnamen und fügte dem Namen noch die Bemerkung „selbst gezogenes Creuz“ hinzu. Telsche Boie stammte aus der Lehe, die für sie zuständige Schule wird die in Westerbüttel gewesen sein. Man irrt aber, wenn man daraus schließt, dass sie nicht schreiben konnte. Einen Vertrag mit Claus Kohlsaat aus dem Jahre 1786 (Abbildung 6) hatte sie nämlich flüssig unterschrieben. Möglich ist, dass sie das Schreiben inzwischen verlernt hatte, ihre Finger krankheitsbedingt steif geworden waren oder ihre Augen nachgelassen hatten. Man sieht, dass in alter Zeit noch andere Faktoren als die Intensität und Dauer des Schulbesuchs die Schreibfähigkeit beeinflussen konnten.
Wir können also vermuten, dass schon um 1700 sehr viele Einwohner Ostermoors lesen und schreiben konnten, darunter Kleinbauern und Frauen. Leider liegen mir aus leicht nachvollziehbaren Gründen keine Dokumente vor, die von Frauen aus völlig besitzlosen Familien unterzeichnet wurden. Somit kann ich keine Aussagen darüber machen, in wie weit die Kunst des Schreibens in dieser Gesellschaftsschicht verbreitet war und ob die Kinder regelmäßig zur Schule gingen.
Allerdings unterstützte zumindest in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die „Armenkiste“, das Gegenstück zum heutigen Sozialamt, arme Kinder. Die Armenkiste zahlte das notwendige Schulgeld an den Schulmeister: „Johan Boie Schulmeister aufm Ostermohr vor [für] armen Kinder 6 mk 2 ß“. Sie finanzierte aber auch Lernmittel. So wurde „einem armen Schul Jungen eine Fibell gekaufft“, einem anderen „ein Psalmbuch“, und einem „armen Kindt ein Evangeliumbuch und Catechismus“ (LAS 102 Ksp. Brunsbüttel Nr. 148). Somit war es ganz armen Kindern möglich lesen und schreiben zu lernen.
Literatur
- BHS: Bauern, Handwerker, Seefahrer, Lebensbilder aus dem Kirchspiel Brunsbüttel und aus dem Lande Dithmarschen. Hrsg. Verein für Brunsbüttler Geschichte. Von Wilhelm. Johnsen (1961)
- LAS: Landesarchiv Schleswig-Holstein ²
Redaktionelle Anmerkungen
¹ [2.3.2016] Der ursprünglich von Boy gesetzte Link war nicht mehr erreichbar. Die Seiten unter wilhelm-busch.de wurden offenbar überarbeitet. Nach Recherchen im März 2016 dürfte der von Boy referenzierte Inhalt nunmehr unter dem neuen Link zu finden sein, eine Garantie kann dafür aber nicht übernommen werden.
alter Link: https://www.wilhelm-busch.de/Max-Moritz-Film.html
neuer Link: https://www.wilhelm-busch.de/werke/max-und-moritz/alle-streiche/vierter-streich/
² [11.3.2016] Der ursprünglich von Boy gesetzte Link war einige Zeit nicht mehr erreichbar. Die Seiten des Landesarchivs Schleswig-Holstein wurden überarbeitet. Da Boy lediglich auf die Startseite des Archivs verlinkt hatte, dürfte der heute neu gesetzte Link unproblematisch sein.
alter Link: https://www.schleswig-holstein.de/LA/DE/LA_node.html
neuer Link: https://www.schleswig-holstein.de/DE/Landesregierung/LASH/lash_node.html
³ [11.3.2016] Der ursprünglich von Boy gesetzte Link war nicht mehr erreichbar. Die Seiten unter kirche-dithmarschen.de wurden offenbar umorganisiert (diue Verzeichnisstruktur wurde auf den Kirchenseiten geändert). Da Boy lediglich auf die Startseite des Kirchenkreisarchivs verlinkt hatte, dürfte der heute neu gesetzte Link unproblematisch sein.
alter Link: https://kirche-dithmarschen.de/wordpress/verwaltung/das-kirchenkreisarchiv
neuer Link: https://kirche-dithmarschen.de/das-kirchenkreisarchiv/