Das Geschlecht der Brunsbütteler Boien
Die frühere Boje-Realschule in der Bojestraße im ehemaligen Brunsbüttelkoog sowie das Matthias-Boie-Haus in Brunsbüttel-Ort erinnern noch heute an das für Brunsbüttel so bedeutende Geschlecht der Brunsbütteler Boien. Hier eine Auswahl bedeutender Mitglieder dieses Geschlechts, wobei die im Kirchspiel Brunsbüttel ansässigen Funktionsinhaber rot gekennzeichnet sind (nach Boie und Boie, 1909 und Kleine-Weischede, 1993):
Landvögte
- Jacobs Harder († 1563)
- Dr. Christian Boie († 1591)
- Michael Boie (* 1526; † 1601)
- Heinrich Christian Boie (* 1744; † 1806)
Kirchspielvögte
- Claus Boie (* 1544; † 1590)
- Claus Boie (* um 1590)
- Matthias Boie (zirka * 1598; † 1653)
- Franz Boie (* 1641; † vor 1721)
Kirchspielschreiber
- Johann Boie (lebte um 1590)
- Marcus Boie (* 1600; † 1669)
- Johann Boie († 1701?)
- Stephan Johann Boie (lebte um 1700)
Pastoren und Diakone
- Boetius Boie alias „Boetius Marquardi“ (* 1495; † 1565)
- Nicolaus Boie (zirka * 1501; † 1542)
- Marcus Boie (* 1542; † 1605)
- Michael Boie (* 1559; † 1626)
- Martin Boie (* 1604; † 1644)
- Johannes Boie († 1645)
- Boethius Petri Boie (lebte um 1620)
- Johann Friedrich Boie (* 1716; † 1776)
Landesgevollmächtigte
- Peter Boie (lebte um 1640)
- Mancke Boie (* 1642; † 1711)
- Johann Boie († 1700)
- Mancke Boie (* 1678; † 1750)
- Jacob Boie (* 1697; † 1764)
Die Brunsbütteler Boien hießen einst Vokemannen
Das Geschlecht der Brunsbütteler Boien ging offensichtlich aus dem Geschlecht der Vokemannen hervor, welches bereits in mittelalterlichen Urkunden (1286, 1316) erwähnt wird. Diese These wird durch die Überlieferung, das Wappen von Dr. Christian Boie und eine mittelalterliche Urkunde gestützt:
In der Stammtafel der Familie Johannsen, aufgestellt 1779, wird an der Spitze ein Drees Johann geführt, welcher in der letzten Fehde (1559) im Kampf gegen die Invasoren in Krummwehl bei Marne erschlagen wurde. Er war „verheiratet mit Silje aus dem Geschlecht der Fackemannen, itzo Boien“ (Boie und Boie, 1909, S. 7). Auch der Dithmarscher Chronist Bolten (1784, S. 100) ging davon aus, dass die Brunsbütteler Boien von den Vokemannen abstammten, wie die Textpassage „handschriftliche Nachricht vom alten Geschlecht der Vagen, nachherigen Bojen“ erkennen lässt.
Sowohl das Geschlecht der Brunsbütteler Boien als auch das der Weißen Vaken führten einen halben schwarzen Adler in ihrem Wappen. Im Wappen des Landvogts Dr. Christian Boie († 1591) findet man sowohl die drei Bojen der Brunsbütteler Boien als auch den Rosenkranz der Weißen Vaken, den Neocorus (1598, S. 217) möglicherweise als Kammrad missdeutete. Dies lässt eine irgendeine verwandtschaftliche Beziehung zwischen Boien und Weißen Vaken vermuten.
Im Vertrag von 1316, der zwischen der Hansestadt Hamburg und Vertretern verschiedener Geschlechter aus dem Kirchspiel Brunsbüttel geschlossen wurde, werden die Namen mehrerer Vokemannen aufgeführt, darunter Harder, Bojo, Voke und Manekin. Diese Leitnamen tauchen auch in der frühen Neuzeit immer wieder bei den Brunsbütteleler Boien auf.
Daher besteht für mich kein Zweifel: Die Brunsbütteler Boien entwickelten sich aus dem mittelalterlichen Geschlecht der Vokemannen. Die Brunsbütteler Boien dürften ihren Familiennamen erst Mitte des 16. Jahrhunderts angenommen haben, denn der oben aufgeführte Pastor Boetius Boie (* 1495; † 1565) nannte sich nach seinem Vater Marquard/Marcus noch Boetius Marquardi, also „Marquards Boie“. Der in der Familienchronik der Boien (siehe unten) aufgeführte legendäre Ahnherr der Boien, Harr oder Herr Vage, dürfte somit der Begründer des Geschlechts der Vagen bzw. Vokemannen auf Dithmarscher Boden sein.
Die Vokemannen – frühe Einwohner von Ostermoor?
Um 1300 wurde die Handelsschifffahrt auf der Elbe empfindlich durch Seeräuberei gestört. Einige der beteiligten Seeräuber stammten aus dem Kirchspiel Brunsbüttel, wie die Verträge von 1286, 1308 und 1316 erkennen lassen. Durch einen glücklichen Kartenfund sind uns die alten Namen der Fluren in der Ostermoorer Feldmark bekannt geworden. Lippert (1962) versuchte, diese Flurnamen den in den Urkunden erwähnten Seeräuber-Geschlechtern zuzuordnen. Besonders überzeugend gelang ihm dies im Falle der Vokemannen, denn auf einer Karten von 1728 ist östlich der noch heute vorhandenen Ostertweute eine Vackmen-Feldmark verzeichnet. Auf dieser befand sich – das sei nebenbei erwähnt – unser Bauernhof.
Massiv gestützt wird die von Lippert (1962) vorgeschlagene Verortung der Seeräuber in der Bauerschaft Ostermoor durch einen bislang übersehenen Hinweis, nämlich den Namen eines der im Vertrag von 1316 aufgeführten Seeräuber. Dieser hieß „Vos, Sohn des Scarlaken“ – der Landstreifen östlich der Westertweute wurde noch 1728 „Scharlaken-Feldmark“ genannt!
Wie wir weiter unten sehen werden, bezeichnet auch die Boien-Chronik diese Gegend (genauer: das Queet) als den Ort, wo sich der Ahnherr des Boien-Geschlechts, Harr oder Herr Vage, im Jahre 1208 ansiedelte. Er hieß also Vage, Sohn des Harder – so deute ich jedenfalls diesen Namen. Früher benamte man seine Kinder nach relativ strengen Regeln. Als Namenslieferanten dienten die Vorfahren, weshalb sich deren Namen unter günstigen Umständen sehr lange in den Familien halten konnten. Lassen sich in den Archiven vielleicht noch Namensspuren des Harr Vage finden? Das Ostermoorer Ackerschatzregister von 1576 führt einen Hars Hans Wilcken und einen Vagenn Szahr als Landeigentümer im Osten der Bauerschaft auf, also zwei Männer, die in oder unweit der Vackmen-Feldmark lebten. Beide sind wohl schon im Landregister von 1561 gelistet, dort als Hans Wilcken und Vagens Kinder. Beide könnten wie der ebenfalls im Landregister eingetragene Vagens Karsten Nachkommen des Ahnherrn des Boien-Clans sein.
Es deutet also einiges darauf hin, dass die Vokemannen in der Ostermoorer Feldmark lebten. Jedoch soll nicht verschwiegen werden, dass die Vokemannen auch in Zusammenhang mit dem noch heute existierenden Ort Groden, der sich westlich von Brunsbüttel an der Elbe befindet, gebracht wurden. Nach Klageschriften aus der ersten Hälfte des des 15. Jahrhunderts, die Übergriffe von Seeräubern aus dem Kirchspiel Brunsbüttel auf Hamburger Schiffe betreffen, gehörte das „vakemannsleychte van de grode“ zu den Übeltätern (Boie, 1936a). Verständlicherweise setzte der Autor Boie „grode“ mit dem Ort Groden gleich, zumal sich einige Einwohner des angrenzenden Kirchspiels Marne ebenfalls als Seeräuber betätigten.
Auch ein Friedensvertrag von 1308 nennt „groden“ als Herkunftsort von Seeräubern. In der zweiten Ausfertigung der Urkunden werden einige Seeräubergeschlechter („amitzemanni, stuckenedenmanni, wanekemanni, todenmanni“) namentlich aufgeführt, die wie andere Seeräuber („ceteri“) in dem zuvor erwähnten „groden“ („de predicta villa“) beheimatet sind. Natürlich ist man auch hier versucht, den heutige Dorf Groden bzw. einen weiter südlich gelegenen, später ausgedeichten Vorgängerort mit dem „groden“ des Dokuments gleich zu setzen. Andererseits ist wenig glaubhaft, dass all diese Seeräubergeschlechter aus einem einzigen winzigen Dorf stammten – vielmehr ist davon auszugehen, dass die Seeräuber entlang des gesamten Elbufers des Kirchspiels siedelten.
Früher nannte man grünes Vorland allgemein „groden“ oder „groven“. Ein grode/grove, also grünes Vorland, existierte ebenfalls am Elbufer vor dem Ostermoor („dat man buthen vp vnser [= Dithmarscher] siden vann der Butendicks grouen henauer [= Groven hinüber] nha dem Buttell“ heißt es in einem Brief von 1563). In diesem Brief geht es übrigens um die vor der Vackmen-Feldmark belegenen Groven. Mit „van de grode“ und „groden“ könnte somit ebenso „die Groven vor dem Ostermoor“ gemeint gewesen sein.
In den oben zitierten Klageschriften werden zwei Vokes namentlich genannt, nämlich Voke Hinriksson und Voke Willer – schon im Vertrag von 1316 taucht ein Henricus Vokensone auf. Auch andere Seeräuber trugen typische Vokemannen- bzw. Boien-Namen wie Boye, Harder und Mancke, wobei diese Personen allerdings nicht ausdrücklich dem Geschlecht der Vokemannen zugeordnet wurden. 1408 zogen Mancke, Voke Hinriksson und andere ein gestrandetes Hamburger Schiff vollends auf das Ufer, um es dort zu plündern. Auch hier wiederholen sich die Namen einiger alter Seeräuber aus den alten Urkunden.
Die Dokumente, die „groden“ als Herkunftsort von Seeräubern allgemein oder der Vokemannen speziell angeben, widersprechen also nicht der Vorstellung, dass die Vokemannen und andere Seeräuber-Geschlechter in der Ostermoorer Feldmark lebten. Vielmehr gibt es überzeugende Beweise dafür, dass „groden“ ein Sammelbegriff für alle Groven im Kirchspiel war und die Vokemannen zumindest anfänglich im Osten der Ostermoorer Groven (vielleicht damals „Marsgrove“ – also Moorgroven – genannt, siehe Vertrag von 1316) ansässig waren. Letzteres wird übrigens von der Überlieferung der Brunsbütteleler Boien ausdrücklich bestätigt. Da diese Familie wie oben erwähnt aus den Vokemannen hervor ging, könnte uns deren Chronik Einblicke in die mittelalterliche Geschichte Ostermoors liefern.
Die Familienchronik der Brunsbütteler Boien
Die Familienchronik der Brunsbütteler Boien wurde vom Landesgevollmächtigten Peter Boie, selbst ein Brunsbütteler Boie, im Jahre 1664 fertig gestellt. Sie teilt uns zahlreiche Details über die Umstände der Einwanderung ihres Ahnherrn, des Herrn Vage, an anderer Stelle auch Harr Vage genannt, in Dithmarschen mit (aus Dahlmann, 1827, in Neocorus, 1598, S. 502; siehe auch Boie und Boie, 1909, S. 2):
„Dieser Herr Vage Boje ist bey Zeiten des Hrn. Ertz=Bischof zu Bremen Hardwici des andern in Dithmarschen gekommen, wie damahlen das Landt Dithmarschen nach Absterben Hertzog Henrici des Lewen unter bemelten Ertz=Bischoff gewesen und ist umbs Jahr Christi 1208 dieser Herr Vage Boje, weil er des Hrn. Ertz=Bischoffs Diener gewesen, vom Hrn. Erz-Bischoff mit der Fehr über die Elbe belehnet worden, dazu hat ihm ein jechliches Hauß aus dem Dorff Ostermohr jährlich ein rauch Huhn geben müssen, und er hat gewohnet in dem Marsch=Kroge, so nun im Queet genennet wird, woselbsten der Zeit die Kirche gestanden. Nachdem die Kirche weggebrochen und das Kirchspiel sich erweitert, sind seine Erben von dar weg, und bey der Kirchen Brunsbüttel gezogen, da sie denn noch bis dato wohnen. Die Fehr ist allezeit bei dem Geschlechte geblieben, bis nach Eroberung des Landes Ao. 1559 …
Das andere Privilegium, wegen eines jechlichen Hauses von Ostermohr ein Roeck=Hohn zu geben, ist alsofort noch bei des alten Herr Vagen Leben, weiln sich Dithmarschen nach Absterben des Hr. Ertz=Bischoffs, so Ao. 1213 geschehen, unter die Kirche Schleswig begeben, und also keinen gewissen Herrn gehabt, in etwas gefallen, gleichwohl so lange der Alte gelebet, geben müssen, hernacher aber, weiln sie die Dithmarschen nach völliger Freyheit getrachtet, auch bey der Schlacht Ao. 1226 völlig erlanget und keinen Herrn gehabt, auch der alte Herr Vage sich mit seinen Kindern völlig im Lande begeben, haben sie das Privilegium fallen lassen, und ist er und seine Nachkommen in Dithmarschen geblieben, sonsten ist er aus dem Erzstifft Bremen gebürtig gewesen, aus Landt Wursten.“
Peter Boie gibt diese Ahnenreihe an: Harr Vake (diesmal nicht „Herr Vake“ geschrieben, wirklich nur ein Zufall? – mehr dazu unten), Boie (um 1226), Harder, Boie, Harder, Marcus, Harder, Boie, Marcus. Über letzteren heißt es:
„Marcus Boye hat gelebet im Jahre 1500, wie König Johannes aus Dänemark in Dithmarschen geschlagen. Damahls ist seine Wohnstätte gewesen, wo meines seel. Vaters Hauß (welches nunmehr ausgeteichet) gestanden. Sie war umgeben mit einem großen Wassergraben und hat er kleine Fallconetten darauf gehabt, daß er Partheyen, welche im Lande gestreiffet, hat abhalten können.“ (Boie und Boie, 1909, S. 12).
Für einen ehemaligen Ostermoorer wie mich ist natürlich von besonderem Interesse, dass ein Friese namens Harr Vage sich um 1208 in der Ostermoorer Feldmark angesiedelt haben soll und von den Ostermoorern alljährlich ein „Rauchhuhn“ erhielt sowie eine Elbfähre betrieb. Zudem soll es in der Ostermoorer Feldmark sogar eine „Kirche“ gegeben haben.
Die Familienchronik der Brunsbütteler Boien ist zweifellos ein beeindruckendes Dokument. Aber ist diese Niederschrift wirklich glaubwürdig? Das soll im Folgenden untersucht werden.
Das Jahr der Einwanderung
Das angebliche Jahr der Einwanderung des Harr Vage (1208) befindet sich schon deshalb auf schwankendem Grunde, weil „Hartwig der Andere“, also Hartwig II., nur bis zum 3. November 1207 lebte. In der Chronik jedoch wird 1213 als Todesjahr Hartwigs angenommen und behauptet, dass der Herr Vage fünf Jahre vor dem Tode Hartwigs nach Dithmarschen gekommen sei. Wenn letzteres zuträfe, wäre Herr/Harr Vage im Jahre 1202 und nicht erst im Jahre 1208 nach Dithmarschen übergesiedelt. Dithmarschen befand sich 1202 allerdings unter der Herrschaft des dänischen Königs Knut VI., dem noch in demselben Jahr Waldemar II. folgte. Die Frage ist nun, ob die damalige politische Konstellation eine Ansiedlung von friesischen Kolonisten in Dithmarschen überhaupt zuließ und diese die erwähnten Privilegien vom Erzbischof von Bremen erhalten konnten.
Die Beziehungen Dithmarschens zum Erzbistum Bremen in den Jahren um 1200 herum sind kompliziert und zumindest für mich als Laien etwas undurchsichtig, vielleicht auch nicht völlig erforscht. Glücklicherweise wird diese bewegte Zeit in mehreren populären Werken zur Dithmarscher Geschichte relativ ausführlich abgehandelt wird (Bolten, 1782; Dahlmann, 1827, in Neocorus, 1598; Hanssen und Wolf, 1833; Kolster, 1873; Chalybaeus, 1888).
Nach der Ermordung des Grafen Rudolf II. von Stade durch die Dithmarscher im Jahre 1144 fiel Dithmarschen zunächst an dessen Bruder Hartwig (* 1118; † 1168), der sein gesamtes Erbe dem Erzbistum Bremen vermachte, es jedoch im Gegenzug als lebenslanges Lehen zurück erhielt und 1148 als Hartwig I. zum Erzbischof von Bremen gewählt wurde.
Dithmarschen wurde aber alsbald vom mächtigen Herzog Heinrich der Löwe († 6.8.1195) in Besitz genommen. Dieser wurde jedoch 1180 mit einer Reichsacht belegt. Nachdem Heinrich sämtliche privaten Güter und die Reichslehen entzogen worden waren, gelang es dem damaligen Erzbischof von Bremen Siegfried I. (* 1132; † 1184), vom Kaiser Friedrich I. einen Lehnsbrief für Dithmarschen zu erwerben. Jedoch machte Graf Adolf III. von Schauenburg und Holstein (* 1160; † 1225) 1182 erfolgreich Ansprüche auf Dithmarschen geltend, gab es aber nur zwei Jahre später (1184) wieder an den Erzbischof zurück, offenbar weil seine Forderungen zu wenig fundiert waren.
Als Reaktion auf drohende hohe Abgaben an das notorisch finanzschwache Erzbistum Bremen erhoben sich die Dithmarscher 1187 gegen den Bremer Erzbischof (seit 1184 Hartwig II.) und schlossen sich wohl 1188 dem Bistum Schleswig an. Diesem stand der vermögende Bischof Waldemar (* 1157/58; † 1235/36), ein dänischer Prinz, vor. Wahrscheinlich auch in der Hoffnung, so Dithmarschen für das Bremische Erzbistum zurückzugewinnen, wurde Bischof Waldemar 1192 anstelle des kurz zuvor abgesetzten Hartwig II. zum Erzbischof von Bremen gewählt. Letzterer war nämlich so unvorsichtig gewesen, den aus der Verbannung zurückgekehrten Heinrich den Löwen in Stade aufzunehmen (1189) und bei dessen Unternehmungen zu unterstützen. Infolgedessen fiel er 1191 beim neuen Kaiser Heinrich VI. in Ungnade und wurde geächtet.
Der frisch gewählte Erzbischof Waldemar trat sein neues Amt jedoch nie an, denn er wurde am 8. Juni 1192 im Auftrage des schleswigschen Herzogs Waldemar wegen seiner Ansprüche auf die dänische Krone festgesetzt und bis 1206 gefangen gehalten. Im Auftrage des deutschen Kaisers eroberte der inzwischen von einem Kreuzzug heimgekehrte Adolf III. Dithmarschen für das Bremer Erzstift zurück. Dafür erhielt er von Hartwig II., der wieder in sein altes Amt eingesetzt worden war, im Jahre 1195 (Bestätigung durch Kaiser Heinrich VI. am 25. Oktober) die Grafschaft Stade mit Dithmarschen zum Lehen, musste aber dem Erzbistum Bremen aber 2/3 der Einkünfte aus diesen Territorien überlassen.
Da der reguläre schleswigsche Bischof Waldemar in Haft saß, meldete der dänische König Knut VI. (* 1162/63; † 1202) Ansprüche auf das zuvor für einige Jahre zum Bistum Schleswig gehörende Dithmarschen an und entriss Adolf III. Dithmarschen im Jahre 1200. Als Reaktion darauf fielen Adolf III. und sein Bundesgenossen Adolf von Dassel 1201 in Dithmarschen ein und verwüsteten das Land schwer. Noch in demselben Jahr schlug der Dänenkönig Adolf III. in der Schlacht bei Stellau (in der Nähe von Wrist). Nach seiner Gefangennahme durch Herzog Waldemar in der Nähe Hamburgs und längerer Haft verzichtete Adolf III. im Jahre 1203 auf seine holsteinischen Besitzungen.
Am 11. November 1202 starb Knut VI. ohne Nachkommen; die Königswürde fiel dessen jüngerem Bruder Waldemar II. (* 1170; † 1241), dem Herzog von Schleswig, zu. 1203 wurde Dithmarschen formal von der Grafschaft Stade getrennt, 1214 sogar vom Deutschen Reich. 1217 kaufte Waldemar II. Ländereien des Erzbistums Bremen in Dithmarschen auf und kappte dadurch die letzten noch verbliebenen weltlichen Beziehungen Dithmarschens zum Deutschen Reich. Jedoch war die dänische Herrschaft nicht von Dauer. Waldemar II. wurde im Mai 1223 auf einem Jagdausflug gefangengenommen, nach Schwerin verbracht und dort in Ketten gelegt. 1225 wurde er wieder aus der Haft entlassen, nachdem er unter Eid versprochen hatte, seine ehemals zum Deutschen Reich gehörenden nordelbischen Besitzungen aufzugeben. Jedoch entband ihn der Papst 1226 von diesem erzwungenem Eid. Während Waldemars Haftzeit waren die Dänen bereits bis zur Eider zurückgedrängt worden, und mit der Schlacht von Bornhöved am 22. Juli 1227 fand die Herrschaft Waldemars II. über Nordelbingen ihr definitives Ende, und Dithmarschen gelangte wieder in den Besitz des Erzbistums Bremen. Peter Boie verlegt dieses für Dithmarschen so wichtige Ereignis – wie übrigens auch Neocorus (1598, dort S. 288) – fälschlicherweise in das Jahr 1226 („Schlacht Ao. 1226“).
Während die weltliche Macht über Dithmarschen im Jahre 1200 auf den dänischen König überging, scheinen die kirchlichen Angelegenheiten zumindest bis 1223 weiter von Bremen aus geregelt worden zu sein. Im Jahre 1223 schlossen der Erzbischof von Bremen und der Domprobst in Hamburg nämlich einen Vergleich, dem zufolge der Domprobst „geistlicher Herr erster Instanz“ über ganz Nordelbien wurde. Selbst nach der Schlacht von Bornhöved (1227), als Dithmarschen wieder unter Bremen kam, übte das Erzbistum nur die weltliche Macht aus (Kolster, 1873, S. 59). Peter Boie irrte also, als er behauptete, dass die Dithmarscher sich nach dem Tode Hartwigs II. „unter die Kirche Schleswig begeben“ hätten. Dies geschah bereits einige Jahre früher, nämlich schon Ende der 1180er Jahre.
An dieser Stelle müssen wir leider konstatieren, dass keines der in der Boien-Chronik aufgeführten geschichtlichen Details einer kritischen Prüfung standhält. Andererseits aber befanden sich laut Dahlmann (1827, in Neocorus, 1598, S. 503) der Erzbischof von Bremen Hartwig II. und sein Lehnsmann Graf Adolf III. von Schauenburg und Holstein von 1195 bis 1200 in „ruhigem Besitze von Dithmarschen“.
Dem Chronisten Neocorus (1598, S. 288) war sehr wohl bekannt, dass Dithmarschen sich einst unter das Bistum Schleswig begeben hatte. Die Dithmarscher seien – so Neocorus – dabei nicht Untertanen des Bischofs und der dänischen Krone, sondern vielmehr „nicht … gantz sine Underdahnen, sonder Bundesgenaten gewesen“ gewesen. Diese politische Konstellation soll laut Neocorus bis zur Schlacht von Bornhöved (1227) fortbestanden haben. Auch Bolten (1782, S. 209) unterlag noch diesem Irrtum, als er vermutete, dass der dänische König Knut VI. die bischöflichen Besitzungen, darunter Dithmarschen, nach der Inhaftierung des Bischofs Waldemar (1192) einzog und Dithmarschen bis 1227 nicht wieder hergab (siehe S. 212). Für einen im Jahre 1664 lebenden Erfinder einer Familiengeschichte wäre es daher recht mutig gewesen, die Ansiedlung des Harr Vage gerade für diese Phase der Geschichte anzunehmen und entgegen der Auffassung bedeutender einheimischer Chronisten wie Neocorus zu behaupten, dass Dithmarschen nach dem Tod Heinrich des Löwen (1195) unter der Herrschaft des Bremer Erzbischofs Hartwig II. stand: „wie damahlen das Landt Dithmarschen nach Absterben Hertzog Henrici des Lewen unter bemelten Ertz=Bischoff gewesen.“
Die Erwähnung des Todes von Heinrich dem Löwen weist auf die Zeit kurz nach 1195 hin. Wenn der Erzbischof von Bremen nach der Ablösung von Graf Adolf III. durch König Knut VI. weiterhin als geistliches Oberhaupt von Dithmarschen fungierte, wie der Vergleich zwischen dem Erzbischof in Bremen und dem Dompropst in Hamburg vom Jahre 1223 vermuten lässt, und deshalb auch weiterhin gewisse Privilegien gewähren durfte, dann könnte sich Harr Vage als Gefolgsmann des Erzbischofs Hartwig II. – in Einklang mit den Angaben von Peter Boie – 1202, also fünf Jahre vor Hartwigs Tod, oder sogar später in Dithmarschen angesiedelt haben.
Ansiedlung des Harr Vage im Queet
Das Queet befand sich sicherlich in der Nähe der längst untergegangenen, aber historisch bezeugten Quitslippe (auch „Quedtslyppen“ geschrieben). Darauf deutet nicht nur die Ähnlichkeit der Namen hin, sondern auch die Tatsache, dass ausgerechnet die Ostermoorer dem Harr Vage tributpflichtig gewesen sein sollen. Interessanterweise wurde die Flur östlich der Ostertweute, die sich unweit der untergegangenen Quitslippe befindet, noch um 1600 „Vackmen-Feldmark“ genannt, wie eine von W.H. Lippert (1962) gezeichnete Karte erkennen lässt.
Auf den ersten Blick scheint letzteres ein ganz starkes Argument für die Glaubwürdigkeit der Boien-Chronik zu sein. Allerdings dürfte deren Verfasser die Existenz und Lage der Vackmen-Feldmark sehr wohl bekannt gewesen sein, was ihn hätte dazu verleiten können, den Ahnherrn des Vakemannen-Geschlecht wegen der Namensähnlichkeit hier anzusiedeln.
Die Privilegien
Laut Chronik musste pro Rauch, also pro Kochstelle, ein Rauchhuhn abgeliefert werden. Diese Form der Abgabe entsprach den bremischen Gepflogenheiten (Dahlmann, 1827, in Neocorus, 1598, S. 503). Die legendäre Geschichte mit dem Rauchhuhn könnte also wahr sein, jedoch waren Rauchhühner durchaus nicht auf das Bremische beschränkt.
Die Frage ist, welche Gegenleistung Harr Vage für das Rauchhuhn zu erbringen hatte. Musste er vielleicht den Bau von Deichen und Entwässerungsgräben organisieren und erhielt dafür im Gegenzug einen Streifen des nun eingedeichten Landes?
Leider wissen wir nicht, wann die Ostermoorer Feldmark erstmals eingedeicht wurde. Das Fehlen eines Deichs zwischen Dithmarschen und der Wilstermarsch im späten Mittelalter kann vielleicht als Indiz dafür interpretiert werden, dass der erste Deich nach 1227 errichtet wurde, also nachdem die weltliche Herrschaft über die Wilstermarsch und Dithmarschen nicht mehr in einer Hand lag. Ein durchgängiger Elbdeich war nicht im Interesse des Dithmarscher Freistaats, denn er wäre für aus dem Holsteinischen angreifende Invasoren ein vorzügliches Einfallstor nach Dithmarschen gewesen.
Die Fähr-Privileg befand sich dem Chronisten Peter Boie zufolge noch bis 1559 im Besitz der Familie. Eine Elbfähre bestand wirklich, ihre älteste Beurkundung stammt aus dem Jahr 1560 (Boie, 1936b, S. 86). Trotz intensiven, jahrzehntelangen Suchens in den in Frage kommenden Archiven konnten jedoch keine Unterlagen gefunden werden, welche die Existenz eines Fährlehens im Mittelalter beweist – wahrscheinlich gingen die betreffenden Urkunden wie die meisten mittelalterlichen Schriftstücke irgendwann verloren. Allerdings soll der Betrieb der Elb- und Eiderfähren sowie der Fähre zur heureichen Insel Tötel (vor Büsum) zu den alten erzbischöflichen Rechten gehört haben (Dahlmann, 1827, in Neocorus, S. 597).
Laut Boie (1936b) war die wirtschaftliche Bedeutung der Fähre wegen der beschränkten Beziehungen zwischen links- und rechtseitigen Uferbewohnern stets sehr begrenzt. Darauf deute – so Boie – auch das Fehlen von wichtigen Straßen nach Brunsbüttel im Mittelalter hin, außerdem hätten Holstengraben und Kudensee den Ort von der Wilstermarsch abgeschnitten. Wahrscheinlich irrt der Autor, wenn er den trennenden Charakter von Strömen, Flüssen und Bächen so sehr betont. Denn fast bis in die Gegenwart hinein waren die Wege in der Marsch kaum passierbar. Der Transport von Gütern und Menschen erfolgte, wenn irgend möglich, über Wasserwege. In dieser Hinsicht dürfte neben der Elbe das Eddelaker Fleet eine gewisse Rolle gespielt haben, über das die Geest und große Teile der Südermarsch, auch das bis 1217 klösterliche Gut Wetternwall, relativ bequem erreicht werden konnten. In diesem Zusammenhang mag man sich allerdings fragen, wieso gerade das abgelegene Ostermoor angeblich eine Fährstelle besessen haben soll.
Boie (1936b) nennt Neuhaus an der Oste als ein mögliches Ziel der Fähre am anderen Elbufer. Der Chronik zufolge hatte sich Harr Vage jedoch im Queet – und nicht im Ort Brunsbüttel oder an der Mündung des Eddelaker Fleets – angesiedelt, was den Zielhafen Neuhaus als eher unwahrscheinlich erscheinen lässt. In Krummendeich, das Ostermoor direkt gegenüber liegt, findet man eine Straße mit dem Namen „Wegefährels“ – legte die Fähre etwa irgendwo hier an?
Erwähnt werden soll noch ein bislang übersehendes Indiz für die Existenz einer Elbfähre im Mittelalter: In den Verträgen von 1308 und 1316 wird ein Johan(nes) Pram als Einwohner des Kirchspiels Brunsbüttel aufgeführt. Das Wort Prahm war schon im Mittelhochdeutschen bekannt und bezeichnete ursprünglich eine flache Fähre mit schnittigem Rumpf. Dieser Johan(nes) Pram war offenbar einer der Fährleute. Er gehörte allerdings nicht dem Geschlecht der Vokemannen, sondern dem der Amitzemannen an.
Besaßen möglicherweise damals die Amitzemannen und nicht die Vokemannen das Fähr-Privileg? Wurde es erst vielleicht erst später von den Vokemannen/Boien übernommen? War dies der Grund für die Umsiedlung der Vokemannen nach Westen? Die Amitzemannen siedelten nach Ansicht von Lippert (1962) auf einer Flur nahe dem östlichen Ufer der Einmündung des Eddelaker Fleets in die Elbe. Dieser Standort war für eine Fährstelle meines Erachtens weit besser geeignet als das abseits gelegene Queet. Aber vielleicht nutzten die Vokemannen den später so genannten „Hafen der Ostermoorleute“, die Mündung eines Fleets zwischen den Bauerschaften Ostermoor und Oldeburwörden, das früher vielleicht mit dem Eddelaker Fleet verbunden war.
Herkunft aus dem Land Wursten
Der Überlieferung nach war Harr Vage Friese und stammte aus dem Land Wursten. Die friesische Herkunft wird von den Familienwappen der Boien untermauert.
Das Familienwappen der Brunsbütteler Boien¹ wird von Neocorus (1598, S. 217) so beschrieben:
„Ein schwart Adeler im witten Velde unnd dre Garstenkorne im blawen Velde“.
Die Gerstenkörner stellen allerdings wohl Bojen und keine Gerstenkörner dar. Man könnte nun vermuten, dass die Bojen die von den Boien betriebene Elbfähre symbolisieren sollen. Jedoch richteten sich die für die Wappen verwendeten Symbole nach dem Familiennamen und nicht umgekehrt. Wenn einige der Vokemannen zum Beispiel um 1550 den Familiennamen Boie annahmen, dann können die drei Bojen demnach frühestens in dieser Zeit in das Wappen gelangt sein.
Schon im Vertrag von 1316 wird ein „petrus filius albi vokonis“ (Peter, Sohn des Weißen Voke) als Zeuge aufgeführt (Michelsen, 1834, S. 12). Über das Wappen der „Weißen Vaken“ schreibt Neocorus (1598, S. 217):
„Witte Vakem, noch 1 schwart Arntt unnd 1 witt Kamradt – - – - iß frombd“.
Letztere Aussage ist für uns natürlich außerordentlich interessant, denn sie deutet auf eine außerdithmarsische Herkunft hin. Der „Arntt“ ist ein Adler, bei dem „Kammrad“ handelt es sich vielleicht um einen Rosenkranz. Der Landvogt Dr. Christian Boie führte sowohl die drei Bojen der Brunsbütteler
Boien als auch den Rosenkranz (der Weißen Vaken?) in seinem Wappen, was auf eine verwandtschaftliche Beziehung der beiden Geschlechter deutet. Im Lande Wursten schmückt der halbe schwarze Adler das Wappen zahlreicher Bauernfamilien, und man findet ihn auch im Wappen einiger Ortschaften wie Dorum. Das war schon Boie und Boie (1909, dort S. 10) aufgefallen.
Wappen von Michael Boie Pastor in Wilster (* 1559; † 1626) (aus Boie und Boie, 1909) |
Wappen des Dr. Christian Boie Landvogt in Meldorf (um 1560) (aus Michelsen, 1834) |
Wappen der Stadt Dorum |
Das Recht der Friesen, dieses Motiv im Wappen zu verwenden, soll auf Kaiser Barbarossa zurück gehen. Der Legende nach dienten Friesen in der Leibwache des Kaisers. Während seines Kreuzuges sollen diese in Rom einen Anschlag auf ihn vereitelt haben. Als Belohnung gewährte Barbarossa ihnen das Recht, den schwarzen Adler im Wappen zu führen (Iba und Gräfing-Refinger, 1999) – das müsste 1190 gewesen sein. Das wäre dann gerade noch früh genug für friesische Auswanderer, um den halben Adler nach Dithmarschen mitzunehmen. Es ist natürlich aber auch möglich, dass die Erinnerung an die friesische Herkunft bei den Nachkommen des Harr Vage lange wach blieb und der halbe Adler erst sehr spät in das Wappen gelangte.
Die friesische Herkunft der Vokemannen/Boien wurde wohl kaum vom Verfasser der Familienchronik erfunden, denn das Wappen mit dem halben schwarzen Adler existierte nachweislich schon weit vor 1664. Allerdings können wir nicht ausschließen, dass der im Wappen bereits vorhandene schwarze halbe Adler im Nachhinein als Indiz für die friesische Herkunft interpretiert wurde. Jedoch fragt man sich, weshalb ein führendes dithmarscher Geschlecht sich ausgerechnet von Einwanderern aus dem Land Wursten ableitete, wo es für geschichtsklitternde Chronisten doch weitaus naheliegender – weil ehrenvoller – gewesen wäre, eine urdithmarscher Herkunft zu kolportieren.
Erwähnt werden sollte noch, dass es sich bei Vake/Voke um einen friesischen Name handelt. Das in Verbindung mit Vake/Vage gebrauchte Herr wurde verschiedentlich als Personennamen – und nicht als Titel – gedeutet. Nach Boie (1936a) könnte sich „Herr“ von den ebenfalls friesischen Namen Har, Hare oder Her ableiten. Diese Vorstellung findet sich schon bei Bolten (1782, S. 312), der die Formulierung „Harre Vacke oder Vage“ benutzt.
Kirche und Erweiterung des Kirchspiels
Von einer Kirche oder Kapelle in der Ostermoorer Feldmark ist uns leider nichts bekannt, jedoch mag in der Nähe der Fährstelle ein Sakralbau, vielleicht eine kleine Kapelle, bestanden haben. In der Tat hat sich das Kirchspiel erweitert, wie Peter Boie meint – dies geschah vermutlich um 1350, als das Gebiet südlich von Kattrepel (Westerdiek) eingedeicht wurde.
Die Ahnenreihe und der Boien-Hof
Stoob (1959, S. 248) monierte, dass die von Peter Boie aufgeführten spätmittelalterlichen Vokemannen/Boien in unabhängigen Dokumenten nicht nachweisbar seien. Hansen ging nach Stoob sogar so weit, die Ahnenreihe der Boien als „wahrscheinlich ganz erfunden“ zu bezeichnen. Zur Überprüfung dieser Aussage seien die Verträge von 1308 und 1316 herangezogen. Wenn die von Peter Boie aufgestellte Stammtafel korrekt ist, müssten ein „Boie“ oder – wahrscheinlicher – ein „Harder“ als Vertreter der Vokemannen auftauchen. In der Tat werden dort jeweils ein Bojo und ein Herder verzeichnet, jedoch tragen deren Väter (Friedrich und Henricus Vokensone) Namen, die mit denen in der Stammtafel unverträglich sind. Natürlich können wir nicht ausschließen, dass die gesuchten Boie oder Harder dem Vertragsschluss aus irgendwelchen Gründen gar nicht nicht beiwohnten.
Stoob (1959, S. 249) hält sogar die relativ junge Überlieferung des mit Kanonen bewaffneten Hofs für „romantische Phantasie“, weil diese ihn an die der Wesselburener Vogdemannenhöfe erinnert. Selbst die Einordnung des Reformators Nicolaus Boie in den Stammbaum wird von Stoob angegriffen (S. 250).
Fazit
In die Boien-Chronik mögen über Generationen tradierte Irrtümer eingeflossen sein, weitere wurden vielleicht vom Autor oder von dessen zeitgenössischem Umfeld leichtfertig oder sogar absichtlich hinzugefügt. Kaum ein von uns überprüfbares Detail hält einer kritischen Überprüfung stand, und es sind daher generelle Zweifel an der Verlässlichkeit der Boien-Chronik angebracht. Andererseits mag ihr ein wahrer Kern innewohnen.
Und so könnte es wirklich gewesen sein …
Zwischen 1195 und 1200 bestanden zwischen Dithmarschen sowie dem Land Wursten engere politische Beziehungen, weil der Erzbischof von Bremen geistliches Oberhaupt beider Landschaften war, und im Falle Dithmarschens bestand sogar eine Lehnshoheit des Bremer Erzstifts. Der Wurstfriese Harr Vage erhielt als „Diener des Herrn Erzbischofs“ die Gelegenheit, sich auf dem wahrscheinlich noch unbedeichten Elbufer vor dem Wüsten Moor anzusiedeln. Er erhielt dieser neben einem Streifen Land (später „Vackmen-Feldmark“ genannt) vom Erzbischof die Erlaubnis eine Elbfähre zu betreiben. Ferner wurde ihm das Rauchhuhn-Privileg übertragen.
Die Erben des Harr Vage, das Geschlecht der „Vokemannen“, wandten sich Ende des 13. Jahrhunderts jedoch der See- und Strandräuberei zu. Dies geschah, weil die Handelsschifffahrt auf der Elbe enorm zugenommen (offizielles Gründungsjahr des Hamburger Hafens 1189) und sich Dithmarschen nach der Schlacht von Bornhöved im Jahre 1227 unter der lockeren Herrschaft des Erzbischofs von Bremen zu einem nahezu souveränen Staat ohne nennenswerte Zentralgewalt entwickelt hatte. Infolge von politischen Veränderungen, vielleicht aber auch wegen Verlandung oder Erosion der zuvor genutzten Anlegestellen, verlagerten sich die Waren- und Personenströme, und die Inhaber des Fähr-Privilegs verlegten die Fährstelle nach Westen. Wann dies geschah, bleibt vorerst unklar.
Literatur
- Boie K. (1936a): Zur Vorgeschichte der „Brunsbütteler Boien“ in Dithmarschen. Dithmarschen. Blätter der Heimatgestaltung 12, 74 – 84.
- Boie R. (1936b): Geschichte der Elbfähre bei Brunsbüttel, aktenmäßig gesehen. Dithmarschen. Blätter der Heimatgestaltung 12, 85 – 99.
- Boie K. und R. Boie (1909): Die Familie Boie. Brunsbütteler Linie. Z. Ges. Schlesw.-Holst. Gesch. 39, 1 – 135.
- Bolten J.A. (1782): Ditmarsische Geschichte. Zweyter Theil. Kortens Buchhandlung. Reprint Verlag Schuster, Leer, 1979, 499 Seiten.
- Bolten J.A. (1784): Ditmarsische Geschichte. Dritter Theil. Kortens Buchhandlung. Reprint Verlag Schuster, Leer, 1979, 427 Seiten.
- Chalybaeus R. (1888): Geschichte Dithmarschens. Verlag Lipsius und Tischer. Unveränderter Nachdruck Verlag Schuster, Leer 1973, 329 Seiten.
- Hanssen J. und H. Wolf (1833): Chronik des Landes Dithmarschen. Langhoffsche Buchdruckerei, Hamburg, 515 Seiten.
- Iba I.M. und H. Gräfing-Refinger (1999): Hake Betken siene Duven: Das grosse Sagenbuch aus dem Land an Elb- und Wesermündung. Verlag Männer vom Morgenstern, 3. Aufl., 314 Seiten.
Kleine-Weischede K. (1993): Über das Wirken der Boies aus Brunsbüttel vor 1674. Brunsbütteler Spuren. Beiträge zur Heimatgeschichte VIII, 76 – 88. - Lippert W.H. (1962): Anhang zum Artikel „Brunsbüttelkoog“ von John Jacobsen. Dithmarschen 2, 42 – 44.
- Michelsen A.L.J. (1834): Urkundenbuch zur Geschichte des Landes Dithmarschen. Reprint Scientia Verlag, 1969, 414 Seiten.
- Neocorus (1598): Dithmersche Historische Geschichte. 1. Band. Hrsg. F.C. Dahlmann, 1827. Verlag Heider Anzeiger, 1904, 584 Seiten.
- Stoob H. (1959): Geschichte Dithmarschens im Regentenzeitalter. Boyens, Heide, 451 Seiten.
Redaktionelle Anmerkung
¹ [21.4.2013] Der ursprünglich von Boy gesetzte Link war nicht mehr erreichbar. Die Domain mein-brunsbuettel.de existiert nicht mehr.
alter Link: https://www.mein-brunsbuettel.de/images/diverse/sonstigeAnsichten/images/SON-E009%20Familienwappen.jpg